„Christian“ macht „Anatol“ Konkurrenz

Insel war über Stunden vom Festland abgeschnitten / Windgeschwindigkeiten von 184 km/h sorgten für Lebensgefahr auf den Straßen

Sylt

Viele Sylter fühlten sich gestern an den 3. Dezember 1999 erinnert. Damals fegte Orkan Anatol mit kaum gekannter Wucht über die Insel, diesmal trug das Orkantief, das laut Meteomedia mit bis zu 184 km/h über Sylt tobte, den Namen Christian. Nachdem der Wind im Laufe des Vormittags an Stärke zugenommen hatte, gab die Leitstelle in Harrislee gegen 13.30 Uhr auch für Sylt Generalalarm. Ab diesem Zeitpunkt waren Polizei und Feuerwehr bis zum Einbruch der Dunkelheit im Dauereinsatz. Allein in der Einsatzzentrale der Feuerwehr zählte man bis zum Abend zwischen 80 und 100 Einsätze : „Der Tag war auf der ganzen Insel heftig“, berichtete Gemeindewehrführer Hauke Block. Beispielsweise in Westerland – hier deckte der Orkan in der Strandstraße ein ganzes Dach ab und ließ in der Bismarckstraße Mauern einstürzen.

Auch die anderen Inselorte konnten der Gewalt des Windes nicht viel entgegensetzen. „Auf der ganzen Insel hat es Ziegel geregnet“, so Block. Zusätzlich habe man vielerorts umgestürzte Bäume von Straßen bergen müssen. So war auch die Norderstraße vor der Asklepios Nordseeklinik kurzzeitig unpassierbar. Besonders die Inselklinik in Westerland entwickelte sich für die Einsatzkräfte zum Problem: Orkan „Christian“ hatte hier etliche Fenster auf der Westseite des Gebäudes eingedrückt und Zwischendecken einstürzen lassen. Daraufhin mussten 190 Patienten evakuiert werden. 120 Kinder und 70 Erwachsene wurden für die Nacht in Zelten des DRK in der Halle 28 untergebracht. Hier versorgten Feuerwehren und DRK die Patienten mit Essen und Schlafmöglichkeiten. „Wir müssen morgen sehen, ob sie in die Klinik zurück kehren können“, sagte Ordnungsamtsleiterin Gabriele Gotthardt.

Auch die Polizei war unermüdlich auf Sylts Straßen unterwegs: Allein bis 17 Uhr fuhren die Beamten rund 45 Einsätze. „Wir sind unter anderem nach Keitum an die K117 gerufen worden“, berichtete ein Polizeisprecher, „hier hat der Orkan große Seecontainer vom angrenzenden Polofeld auf die Straße geweht.“ Nur mit einem Trecker konnte die Straße von den Stahlkolossen, die das nahe Umspannwerk leicht hätten zerstören können, geräumt werden.

Simone Findt und Lena Rosin (16) aus Duisburg waren am Westerländer Strand unterwegs, als sie der Sturm Sylt gegen 14.30 Uhr mit voller Kraft traf: Verkehrsschilder knicken um, Plastiktische fliegen durch die Luft, Passanten müssen sich wegen der Böen auf der Straße hinhocken, werden gegen Straßenpoller gedrückt. „Eigentlich wollten wir die Friedrichstraße hoch gehen, aber der Wind war so heftig, dass es einfach nicht mehr ging“, berichtet Findt, „wir haben versucht, in ein Geschäft an der Friedrichstraße Unterschlupf zu finden, aber wir wurden nicht rein gelassen.“ Dass Geschäftsleute Menschen unter solch extremen Wetterbedingungen nicht helfen wollen, ärgert die Urlauberin: „Da waren Familien mit kleinen Kindern – die haben gegen die Scheiben geklopft und wurden nicht rein gelassen.“ Letztendlich fanden die beiden im Kundencenter der Sylter Rundschau Unterschlupf. Gemeinsam mit rund 50 anderen Menschen saßen sie in den Räumen in der Andreas-Dirks-Straße die schlimmste Phase des Sturmes aus. Rund 25 Menschen hatten weniger Glück. Sie wurden mit Prellungen oder Kopfverletzungen in die Asklepios Nordseeklinik eingeliefert. Schwere Verletzungen blieben dort glücklicherweise aus. Wie das Bildungsministerium gestern Abend kurz vor Redaktionsschluss bestätigte, fällt heute der Unterricht an allen Schulen im Kreis Nordfriesland aus.

NilsJesumann / Friederike Reußner Eine ausführlichere Bilanz des ungewohnt heftigen Orkans ziehen wir in unserer morgigen Ausgabe.Die Insel hat Glück im Unglück

Am Tag nach dem Sturm ziehen Küstenschützer eine positive Bilanz / Inselweite Aufräumarbeiten nach dem Orkantief Christian

Sylt

Mit Windböen von 43,7 Meter pro Sekunde hat das Orkantief Christian am Montag nicht nur über 100 Feuerwehreinsätze und mehrere hunderttausend Euro Schaden verursacht – auch die historische Sylter Sturmstatistik hat der Orkan durcheinandergewirbelt: Nach Messungen der Wetterstation des Deutschen Wetterdienstes in List jagte Christian mit den fünftstärksten Windböen seit Beginn der Windaufzeichnung im Jahr 1950 über die Insel. Stürmischer Spitzenreiter bleibt damit Orkan Anatol mit 51 Meter pro Sekunde. Und trotzdem: Es waren die heftigsten Windböen seit 32 Jahren.

Dirk Schnittgard (48), Inhaber der Dachdeckerei Heimsen, konnte sich bereits kurz nach Abklingen des Sturms einen Eindruck der Schäden machen. Er und seine Leute bekamen innerhalb der ersten 24 Stunden rund 150 Aufträge, von denen bis gestern schon rund 30 provisorisch abgearbeitet waren. „Nach dem ersten Blick auf die Dächer, erinnert mich das Ausmaß der Schäden an Erwin (2005) – Anatol war aber schlimmer“, so der Fachmann. Am Morgen nach dem Sturm machten sich gestern auch Westerlands Wehrführer Jörg Elias und Ordnungsamtsleiterin Gabriele Gotthard ein Bild der Lage. Trotz der vielen Einsätze und Schäden an Gebäuden sowie umgestürzter Bäume waren sie sich einig: Die Insel sei noch einmal glimpflich davongekommen. „Es war schlimm, aber nicht so schlimm wie bei Anatol“, analysierte Elias. Nachdem die Einsatzkräfte am Montag die Syltklinik evakuieren mussten – der Wind hatte Fenster eingedrückt – konnten die 190 Bewohner am Abend wieder in die Einrichtung zurückkehren. Die Nacht hatten sie in der Halle 28 auf dem Fliegerhorst verbracht.

Aufatmen konnten gestern auch die Naturschützer mit dem Blick auf Sylts Strände: „Abgesehen von der Hörnum Odde sehen die Strände besser aus als erwartet“, sagte Manfred Ueckermann vom Landschaftszweckverband (LZV) nach einer ersten Strandbereisung. „Wir haben Glück gehabt.“ Nach Ansicht von Arfst Hinrichsen vom Landesbetrieb für Küstenschutz (LKN) sei dies auf den nicht ganz so hohen Wasserstand von im Schnitt 1,50 Meter über dem mittleren Tidehochwasser zurückzuführen. Verlierer des Sturms bleibt die Hörnum Odde: Hier zeigten sich gestern starke Dünenverluste von mehreren Metern. So liegt die Treppenanlage zum Unterfeuer jetzt in der Abbruchkante. Trotz des massiven Sandverlustes gibt es laut Küstenschützer Arfst Hinrichsen im Inselsüden keinen Grund zur Panik: „Der bestand der Odde ist nicht gefährdet.“ nje/frr/batVideo: www.shz.de/lokales/sylter-rundschau/

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